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Deutsch, Leistungskurs
Aufgabenstellung:
1. Fassen Sie den Inhalt des vorliegenden Ausschnitts aus Christa Wolfs Erzählung
„Kassandra“ zusammen und analysieren Sie ihn im Hinblick auf die Erzählperspektive,
die Intentionen der Figuren und ihr Verhalten im System politischer Macht. (42 Punkte)
2. Stellen Sie die Figuren der Königin Elisabeth und der Prinzessin Eboli in Schillers
Drama „Don Carlos“ dar und zeigen Sie im Vergleich der beiden Texte, wie Schiller
die Rolle der Frau innerhalb des höfischen Machtsystems gestaltet. (30 Punkte)
Materialgrundlage:
• Christa Wolf: Kassandra. 6. Auflage. München: Luchterhand 2004 (Erstveröffentlichung
1983), S. 148 ff.
Christa Wolf
Kassandra (Auszug)
Hekabe führte mich geraden Weges in den Rat. Nein. Falsch. In jenen Saal, in dem früher
Rat gehalten wurde. Wo jetzt, von König Priamos geleitet, Verschwörer beieinanderhockten.
Sie wiesen uns zurück. Hekabe erklärte, alle Folgen, die daraus entstünden, daß man uns
jetzt nicht einließ, hätten sie selbst zu tragen. Allen voran der König. Der Bote kam zurück:
Wir sollten kommen. Aber nur kurz. Man habe keine Zeit. Immer, solange 5 ich denken kann,
war im Rat für wichtige Fragen keine Zeit.
Zuerst konnte ich nicht hören, weil ich den Vater sah. Ein verfallner Mann. Kannte er
mich? Dämmerte er dahin?
Es ging also um Polyxena. Nein, um Troia. Nein, um Achill das Vieh. Es ging darum, daß
Polyxena den Achill in unsern Tempel locken sollte. In den Tempel des thymbraischen
Apoll1. Unter dem Vorwand, sich ihm zu vermählen. In meinem Kopfe jagten sich Vermutungen.
Vermählen? Aber – Keine Sorge. Nur zum Schein. In Wirklichkeit –
Ich glaubte meinen Ohren nicht zu trauen. In Wirklichkeit würde unser Bruder Paris hinter
dem Götterbild, wo er verborgen war, hervorbrechen (hervorbrechen! So sprach Paris
selbst!), und er würde Achill da treffen, wo er verletzlich war: an der Ferse. Wieso gerade
dort. – Er hatte seinen wunden Punkt der Schwester Polyxena anvertraut. – Und Polyxena?
– Spielte mit. Natürlich. Die? sagte Paris frech. Die freut sich drauf.
Das bedeutet, ihr verwendet Polyxena als Lockvogel für Achill.
Breites Grinsen: Du hasts erfaßt. So ist es. Ohne Schuhe, das ist die Bedingung, die sie
ihm genannt, wird Achilles in den Tempel kommen.
Rundum Gelächter.
Allein?
Was denkst du denn. Allein. Und wird den Tempel lebend nicht verlassen.
Und Polyxena? Wird ihn dort allein erwarten?
Wenn du von Paris absiehst, sagte Eumelos. Und von uns natürlich. Aber wir stehn
draußen.
Und Achill wird also Polyxena dort umarmen.
Zum Schein. Wenn er genügend abgelenkt ist – Lachen –, trifft ihn Paris’ Pfeil.
Gelächter.
Und Polyxena ist damit einverstanden.
Einverstanden? Sie ist gierig drauf. Eine wahre Troerin.
Aber warum ist sie nicht hier.
Hier geht es um Einzelheiten. Die sie nichts angehn. Um die kühle Planung. Die sie als
Frau nur durcheinanderbrächte.
Ich schloß die Augen, und ich sah die Szene. Mit allen Einzelheiten. Hörte Polyxenas
Lachen. Sah den Mord im Tempel – Achill als Leiche, ach! wer lechzte nicht nach diesem
Anblick! –, der an Polyxena hängenbliebe.
Ihr benutzt sie.
Wen denn?
Polyxena.
Aber bist du nicht imstande zu begreifen! Um sie geht es nicht. Es geht uns um Achill.
Das ist es, was ich sage.
Da sprach der Vater, der bis jetzt geschwiegen hatte: Schweig, Kassandra. – Zornig, böse.
– Ich sagte: Vater –
Komm mir nicht mehr mit „Vater“. Viel zu lange ließ ich dich gewähren. Gut, dachte ich,
sie ist empfindlich. Gut, sie sieht die Welt nicht, wie sie ist. Sie schwebt ein bißchen in den
Wolken. Nimmt sich wichtig, das tun Frauen gern. Ist verwöhnt, kann sich nicht fügen. Überspannt.
Bildet sich was ein. Worauf denn, Tochter. Kannst du mir das sagen? Immer die Nase
hoch? Und mit dem Mundwerk vorneweg? Und die verachten, die für Troia kämpfen? Ja
kennst du unsre Lage überhaupt. Und wenn du diesem unsern Plan, Achill, den schlimmsten
Feind, zu töten, jetzt nicht zustimmst – weißt du, wie ich das nenne? Feindbegünstigung.
So eine Stille um mich, in mir. Wie jetzt. Wie hier.
Der Vater sagte noch, sofort solle ich den Plänen, die zur Verhandlung stünden, nicht nur
zustimmen; ich solle mich verpflichten, über sie zu schweigen und, wenn sie ausgeführt, sie
gegen jedermann ausdrücklich zu verteidigen.
Dies also war, doch unverhofft, der Augenblick, den ich gefürchtet hatte. Unvorbereitet
war ich nicht, warum war es so schwer. Hastig, unheimlich schnell erwog ich, daß sie im
Recht sein könnten. Was heißt im Recht. Daß das Recht – Polyxenas Recht, mein Recht –
gar nicht zur Sprache stand, weil eine Pflicht, die, unsern schlimmsten Feind zu töten, das
Recht verschlang. Und Polyxena? Sie ging zugrund, daran war nicht zu zweifeln. Sie war
schon aufgegeben.
Nun, Kassandra. Nicht wahr, du bist vernünftig.
Ich sagte: Nein.
Du stimmst nicht zu? Nein.
Aber du wirst schweigen.
Nein, sagte ich. Angstvoll umfaßte Hekabe die Mutter meinen Arm. Sie wußte, was jetzt
kam, ich auch. Der König sagte: Nehmt sie fest.
[...]
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Deutsch, Leistungskurs
Aufgabenstellung:
1. Fassen Sie den Inhalt des vorliegenden Ausschnitts aus Christa Wolfs Erzählung
„Kassandra“ zusammen und analysieren Sie ihn im Hinblick auf die Erzählperspektive,
die Intentionen der Figuren und ihr Verhalten im System politischer Macht. (42 Punkte)
2. Stellen Sie die Figuren der Königin Elisabeth und der Prinzessin Eboli in Schillers
Drama „Don Carlos“ dar und zeigen Sie im Vergleich der beiden Texte, wie Schiller
die Rolle der Frau innerhalb des höfischen Machtsystems gestaltet. (30 Punkte)
Materialgrundlage:
• Christa Wolf: Kassandra. 6. Auflage. München: Luchterhand 2004 (Erstveröffentlichung
1983), S. 148 ff.
Christa Wolf
Kassandra (Auszug)
Hekabe führte mich geraden Weges in den Rat. Nein. Falsch. In jenen Saal, in dem früher
Rat gehalten wurde. Wo jetzt, von König Priamos geleitet, Verschwörer beieinanderhockten.
Sie wiesen uns zurück. Hekabe erklärte, alle Folgen, die daraus entstünden, daß man uns
jetzt nicht einließ, hätten sie selbst zu tragen. Allen voran der König. Der Bote kam zurück:
Wir sollten kommen. Aber nur kurz. Man habe keine Zeit. Immer, solange 5 ich denken kann,
war im Rat für wichtige Fragen keine Zeit.
Zuerst konnte ich nicht hören, weil ich den Vater sah. Ein verfallner Mann. Kannte er
mich? Dämmerte er dahin?
Es ging also um Polyxena. Nein, um Troia. Nein, um Achill das Vieh. Es ging darum, daß
Polyxena den Achill in unsern Tempel locken sollte. In den Tempel des thymbraischen
Apoll1. Unter dem Vorwand, sich ihm zu vermählen. In meinem Kopfe jagten sich Vermutungen.
Vermählen? Aber – Keine Sorge. Nur zum Schein. In Wirklichkeit –
Ich glaubte meinen Ohren nicht zu trauen. In Wirklichkeit würde unser Bruder Paris hinter
dem Götterbild, wo er verborgen war, hervorbrechen (hervorbrechen! So sprach Paris
selbst!), und er würde Achill da treffen, wo er verletzlich war: an der Ferse. Wieso gerade
dort. – Er hatte seinen wunden Punkt der Schwester Polyxena anvertraut. – Und Polyxena?
– Spielte mit. Natürlich. Die? sagte Paris frech. Die freut sich drauf.
Das bedeutet, ihr verwendet Polyxena als Lockvogel für Achill.
Breites Grinsen: Du hasts erfaßt. So ist es. Ohne Schuhe, das ist die Bedingung, die sie
ihm genannt, wird Achilles in den Tempel kommen.
Rundum Gelächter.
Allein?
Was denkst du denn. Allein. Und wird den Tempel lebend nicht verlassen.
Und Polyxena? Wird ihn dort allein erwarten?
Wenn du von Paris absiehst, sagte Eumelos. Und von uns natürlich. Aber wir stehn
draußen.
Und Achill wird also Polyxena dort umarmen.
Zum Schein. Wenn er genügend abgelenkt ist – Lachen –, trifft ihn Paris’ Pfeil.
Gelächter.
Und Polyxena ist damit einverstanden.
Einverstanden? Sie ist gierig drauf. Eine wahre Troerin.
Aber warum ist sie nicht hier.
Hier geht es um Einzelheiten. Die sie nichts angehn. Um die kühle Planung. Die sie als
Frau nur durcheinanderbrächte.
Ich schloß die Augen, und ich sah die Szene. Mit allen Einzelheiten. Hörte Polyxenas
Lachen. Sah den Mord im Tempel – Achill als Leiche, ach! wer lechzte nicht nach diesem
Anblick! –, der an Polyxena hängenbliebe.
Ihr benutzt sie.
Wen denn?
Polyxena.
Aber bist du nicht imstande zu begreifen! Um sie geht es nicht. Es geht uns um Achill.
Das ist es, was ich sage.
Da sprach der Vater, der bis jetzt geschwiegen hatte: Schweig, Kassandra. – Zornig, böse.
– Ich sagte: Vater –
Komm mir nicht mehr mit „Vater“. Viel zu lange ließ ich dich gewähren. Gut, dachte ich,
sie ist empfindlich. Gut, sie sieht die Welt nicht, wie sie ist. Sie schwebt ein bißchen in den
Wolken. Nimmt sich wichtig, das tun Frauen gern. Ist verwöhnt, kann sich nicht fügen. Überspannt.
Bildet sich was ein. Worauf denn, Tochter. Kannst du mir das sagen? Immer die Nase
hoch? Und mit dem Mundwerk vorneweg? Und die verachten, die für Troia kämpfen? Ja
kennst du unsre Lage überhaupt. Und wenn du diesem unsern Plan, Achill, den schlimmsten
Feind, zu töten, jetzt nicht zustimmst – weißt du, wie ich das nenne? Feindbegünstigung.
So eine Stille um mich, in mir. Wie jetzt. Wie hier.
Der Vater sagte noch, sofort solle ich den Plänen, die zur Verhandlung stünden, nicht nur
zustimmen; ich solle mich verpflichten, über sie zu schweigen und, wenn sie ausgeführt, sie
gegen jedermann ausdrücklich zu verteidigen.
Dies also war, doch unverhofft, der Augenblick, den ich gefürchtet hatte. Unvorbereitet
war ich nicht, warum war es so schwer. Hastig, unheimlich schnell erwog ich, daß sie im
Recht sein könnten. Was heißt im Recht. Daß das Recht – Polyxenas Recht, mein Recht –
gar nicht zur Sprache stand, weil eine Pflicht, die, unsern schlimmsten Feind zu töten, das
Recht verschlang. Und Polyxena? Sie ging zugrund, daran war nicht zu zweifeln. Sie war
schon aufgegeben.
Nun, Kassandra. Nicht wahr, du bist vernünftig.
Ich sagte: Nein.
Du stimmst nicht zu? Nein.
Aber du wirst schweigen.
Nein, sagte ich. Angstvoll umfaßte Hekabe die Mutter meinen Arm. Sie wußte, was jetzt
kam, ich auch. Der König sagte: Nehmt sie fest.
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